Information Aktuelle Projekte Biografie Publikationen Zentrum Transfer Transferprojekte-RD.org





www.ChristianReder.net: Publikationen: Transfer Damaskus: Hinter Differenz...
 

Transferprojekt Damaskus
urban orient-ation

Herausgegeben von Christian Reder und Simonetta Ferfoglia
Institut für Medienkunst / Kunst- und Wissenstransfer
Universität für angewandte Kunst Wien
Edition Transfer bei Springer Wien New York 2003
402 Seiten, durchgehend in deutscher und arabischer Sprache

"Transferprojekt Damaskus" ist ein Kompendium
zu audiovisueller Erforschung von Urbanität,
zu künstlerisch-essayistischen Sichtweisen,
zu transkultureller Arbeit über symbolische Dimensionen und Facetten sozialen Handelns, als experimenteller Umgang mit Komplexität.


 

Hinter Differenz zeigen sich überall Ähnlichkeiten
Sadik J. Al-Azm im Gespräch mit Christian Reder

 

Im einzigen bisher auf Deutsch erschienenen Buch von Sadik J. Al-Azm, "Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam" bezeichnet er seine ursprünglichen gedanklichen Ansätze als insistierenden Versuch, "die linke Position der Marxisten mit einer Religionskritik von radikal-aufklärerischem Zuschnitt" zu verbinden. In diesem Geist geschriebene Publikationen - etwa "Selbstkritik nach der Niederlage" (1968) oder "Kritik des religiösen Denkens" (1969) - haben ihm jede Menge Schwierigkeiten, aber auch den Ruf als "Ketzer von Damaskus", führender arabischer Philosoph und markanter Analytiker arabischer Gesellschaften und globaler Prozesse eingetragen. Besonders wichtig ist ihm die zutreffende Voraussage von Karl Marx geblieben, "dass keine vorkapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsformation in der Lage sein werde, sich der Penetration und Destabilisierung durch das moderne sozioökonomische System des europäischen Kapitalismus zu widersetzen". Nur wenige Prognosen im Bereich der Sozial- und Geschichtswissenschaften hätten sich, ist er überzeugt, als derart hellsichtig und gültig herausgestellt.

Sadik J. Al-Azm zählt mit Assia Djebar, Edward W. Said oder Amin Maalouf (der in diesem Band ebenfalls mit einem Gesprächstext vertreten ist) zu den etwa neunzig Autoren und Autorinnen mit arabischem bzw. muslimischem kulturellem Hintergrund, die sich am Beispiel Salman Rushdies dezidiert für gedankliche und künstlerische Freiheiten ausgesprochen haben. Die vom Iran ausgehende so genannte Fatwa gegen den Schriftsteller, schreibt er in seinem Statement dazu, sei "eine Affäre des Staates, der Machtpolitik, der Revolution und nicht eine Angelegenheit des Glaubens, muslimischer Theologie oder der Scharia-Gesetze". Rushdie gehört für ihn zu den Vorkämpfern "für ein kritisches Bewusstsein von islamischer Kultur und Geschichte", so wie es Rabelais oder Joyce in Europa gewesen sind. An den dort kursierenden Vorstellungen stören ihn vor allem die Stereotypien und die fortdauernde Sicht auf den Rest der Welt als etwas anderes. Denn "mit Sicherheit ist das intellektuelle und kulturelle Leben in der muslimischen Welt", bemerkt er dazu, "keineswegs so konformistisch islamisch, so bedingungslos religiös und geistig so stagnierend, wie einem die zahllosen Darstellungen, Interpretationen und Erklärungen glauben machen wollen".

In diesem Sinn argumentiert er auch in Bezug auf die sich immer wieder von neuem zuspitzende Konfliktsituation im Mittleren Osten. Seinem ausführlichen Essay dazu in "The New York Book Review" ("The View from Damascus", 15. Juni und 10. August 2000) wurde auch von hochrangiger israelischer Seite, etwa von Itmar Rabinovitch, dem Präsidenten der Universität Tel Aviv, bestätigt, "in vieler Hinsicht faszinierend und bedeutend" zu sein; vor allem aber sei er "ein höchst wertvoller Beitrag zur Beleuchtung der Tiefe und Komplexität der syrischen Debatte über den Frieden mit Israel." Zwecks Rückblick auf das dramatische Jahr 2001 in die Sendung "Kulturzeit" des TV-Senders 3sat nach Deutschland geladen, hat er im Kreis von Peter Sloterdijk, Slavoj Zizek, Sigrid Weigel oder Detlev Claussen versucht, seiner Sicht "als Beobachter von außen" Gehör zu verschaffen und das Interesse manchmal weg von religionsgeprägten jüdisch-christlich-muslimischen Konzepten, wie er es nannte, auf den Rest der Welt zu lenken. Als Adorno zur Sprache kam, konstatierte er ihm "eine Art blinden Eurozentrismus". Der sich immer noch bemerkbar machenden Auffassung von einer speziellen "Harmonie der deutschen Sprache mit ernsthaftem philosophischem Denken" stehe er eher fassungslos gegenüber, gestand er vor deutschsprachigem Publikum ein; und weiter: Purer Nonsens sei es, im Terrorismus ein Produkt anderer Kulturen zu sehen, da in jeder Gesellschaft solche Gewaltpotenziale existierten. Einen religiösen Hintergrund bedürfe es dazu nicht. Als Waffe der Schwachen, als Bereitschaft, für eine Sache zu sterben, habe er eine viel weitere Dimension und Geschichte, als es die aktuelle Projektion auf Fremde widerspiegle. So viel zu seinen, im deutschen Sprachraum eher selten anzutreffenden Diskussionsbeiträgen.
Im Mai 2002 haben wir uns in Damaskus getroffen. Der folgende Text ist das Konzentrat des dort auf Englisch geführten Gesprächs.

 

Sadik J. Al-Azm, geb. 1934 in Damaskus, Studium in Beirut, lehrt seit 1977 Philosophie an der Universität Damaskus, Gastprofessuren in New York, Beirut, Amman, Princeton, Harvard, Japan, Berlin.

 

Sadik J. Al-Azm: Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt / M. 1993

 

For Rushdie. Essays by Arab and Muslim Writers in Defense of Free Speech. New York 1994

 

Heute sind praktische Fragen zu stellen: Beherrschen die Regierungen in der arabischen Welt ihr Handwerk? Was tragen sie zum Aufbau der Zivilgesellschaft bei? Wie stehen sie zu den Menschenrechten? Wie viel Transparenz und Demokratie lassen sie zu?
Sadik J. Al-Azm in: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 23 / 3. 6. 2002

 

Wenn es irgendwann endlich Frieden geben wird, dann wird das nicht so sehr ein Frieden der Tapferen sein, sondern ein Frieden der Erschöpften.
Sadik J. Al-Azm: The View from Damascus. In: The New York Review of Books. 15, Juni 2000

 

Es gibt in Syrien sicher eine starke Ablehnungsfront - Leute, die sich weigern, die Existenz Israels zu akzeptieren. Nach meiner festen Überzeugung sind sie eine Minorität, es gibt sie aber.
Sadik J. Al-Azm: The View from Damascus. In: The New York Review of Books. 15, Juni 2000

 

Das einzige Modell, das die Islamisten angeboten haben, war das Afghanistan der Taliban. Sie werden in der arabischen Welt niemanden finden, der dieses Modell heute ernsthaft verteidigt. Das Projekt ist ausgelaugt, es ist besiegt.
Sadik J. Al-Azm in: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 23 / 3.6.2002

 

Wenn sich beispielsweise Kapitalismus, Sozialismus, Nationalismus und Säkularismus die der europäischen Moderne entstammen, über den islamischen Nahen Osten ausbreiten, so sind diese Gesellschaften und Kulturen, in denen sie ihre Wirkung entfalten, keineswegs so grundsätzlich anders als die Gesellschaften und Kulturen der Entstehungsländer dieser Kräfte.
Sadik J. Al-Azm: Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt / M. 1993, S. 79

 

Das politische Selbstbewusstsein in der arabischen Welt ist seit Jahren auf dem Tiefpunkt. In dieser Situation auf die Straße zu gehen und für die unterdrückten Palästinenser zu demonstrieren, befreit die Menschen auch von ihrer eigenen Unterdrückung. Dieser neue Enthusiasmus demaskiert die Heuchelei der Herrschenden und setzt politische Energien frei.
Sadik J. Al-Azm in: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 23 / 3.6.2002

 

Die "innersten Werte" des Westens sind nicht immer das gewesen, wofür sie heute gehalten werden, und die angeblichen "authentischen Werte" der Muslime müssen nicht immer das bleiben, was sie vermeintlich immer schon gewesen sind.
Sadik J. Al-Azm: Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt / M. 1993, S. 49

 

Es ist beinahe überflüssig darauf hinzuweisen, dass diese Form des Antisemitismus in den sattsam bekannten Spielarten des christlichen Fundamentalismus - der römisch-katholischen Kirche, der griechisch-orthodoxen Kirche und des Protestantismus - viel tiefer verankert ist als bei den Islamisten.
Sadik J. Al-Azm: Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt / M. 1993, S. 113

 

... es ist wahrlich nicht lange her, dass man "Lady Chatterley's Liebhaber" nicht legal kaufen konnte [und] dass zur gleichen Zeit die Romane von Henry Miller bei Olympia Press in Paris mit dem Verbot auf dem Buchdeckel erschienen: ‚Darf nicht nach Grossbritannien und in die Vereinigten Staaten importiert werden'.

Sadik J. Al-Azm: Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt / M. 1993, S. 49

 

Wie vor ihm Rabelais bezieht Rushdie in seiner Prosa zu allen größeren Konflikten seiner Epoche immer die jeweils progressivste Position seiner Zeit, ob nun auf politischer, kultureller, sozialer, ideologischer, religiöser oder wissenschaftlicher Ebene.

Sadik J. Al-Azm: Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam. Frankfurt / M. 1993, S. 16

 

Unser Vorhaben nennen wir "Transferprojekt Damaskus", um die angestrebten Austauschprozesse zu betonen, im Sinn urbaner Potenziale, im Sinn sich überlagernder Bezugsfelder. Sich zwischen solchen Sphären zu bewegen, ist dabei wichtig, das Kombinatorische. Kennt auch das Arabische solche ausufernden Bedeutungen von "Transfer"?

Als neutraler, aus dem Englischen übernommener Begriff werden darunter Transportleistungen verstanden; es gibt auch arabische Ausdrücke dafür. In der jetzigen Situation jedoch erzeugt die englische Version, wenn sie im Arabischen verwendet wird, sofort die Assoziation mit dem Plan von Ariel Sharon, die Palästinenser über den Jordan nach Osten zu transferieren, so wie es extrem rechte Gruppen in Israel fordern. Dieser "Transfer" hat bei uns also äußerst negative Bedeutungen und das Wort dafür wird nur in diesem Kontext verwendet. Als Verbindung, als Transmission, als Vermittlung, als Interaktion verstanden, ist "Transfer" aber durchaus auch geläufig.

Historisch gesehen sind ja Syrien und seine Nachbarländer exemplarische Zonen für Transfers.

Sicher. Wir nennen uns daher auch "Middle East", Mittlerer Osten, als Hinweis auf solche Vermittlungsebenen, auf ein Dazwischenstehen.

Indira Gandhi aber hat diesen Begriff gegenüber Amin Maalouf zurückgewiesen und von Westasien gesprochen, wie an anderer Stelle in diesem Band nachzulesen ist.

Dass wir den europäischen Begriff akzeptiert haben, hängt mit dem Verständnis arabischer Zivilisation zusammen und ihrer Rolle bei der Vermittlung des Wissens der Antike an die europäische Renaissance. Sie hat die Fackel nicht ausgehen lassen und weitergetragen, als Europa eine dunkle Zeit durchgemacht hat. Auch sehr viel Eigenständiges ist dazugekommen. Die Araber nur als Transferierer zu sehen, ist also nicht richtig Sie waren nicht bloß Agenten, sondern auch Subjekte in diesen kulturellen Prozessen. Klar ist, dass die Rede vom Nahen, Mittleren, Fernen Osten eurozentrischen Ursprungs ist, nur manchmal transzendieren solche Begriffe eben und werden gleichsam in unschuldiger Weise benutzt, ohne dass ihre Herkunft aus europäischen Perspektiven noch eine Rolle spielt. Mit der Bezeichnung Westasien kommen wir nicht weit, schon weil Ägypten für uns Teil des Mittleren Ostens ist, aber in Afrika liegt. Sie entspricht nicht unserer Selbstwahrnehmung und wäre wiederum indozentrisch. Auch bezieht sie den Zusammenhang mit dem Mittelmeerraum nicht ein, eine sehr wichtige Dimension in unseren Vorstellungen. Das geht zurück bis zu Alexander dem Großen, bis ins antike Rom. Wir haben in Syrien und im Libanon wahrscheinlich mehr römische Reste als selbst Italien. Auch das muslimische Spanien ist ein Faktor, der Maghreb. Aus Europa kamen die Kreuzfahrer, kam die Moderne. All das ist bestimmend für unsere Existenz. Transfers haben andauernd stattgefunden, in alle Richtungen. Als Westasien verstanden, würde vieles ausgeklammert. Das habe ich auch gegenüber meinen indischen Gesprächspartnern vertreten, die uns als Westasien sehen wollen. Aufgefallen ist mir, dass sie oft wie europäische Orientalisten denken. Sie sehen zuallererst die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften des klassischen Indien, vor allem die Einführung der Null, und betrachten die Araber lediglich als Vermittler in Richtung Westen. Damit sind wir wieder bei unserem Thema "Transfer"; schlichte Transportleistungen darin zu sehen, wäre zu eng. Es waren höchst komplexe, vielfältig angereicherte Vermittlungsvorgänge, die schließlich den Aufstieg des modernen Europas begünstigt haben.

Begriffliche Probleme gibt es aber auch bei der Bezeichnung gesellschaftlicher Prägungen; von islamisch orientierten Ländern zu sprechen, ist vielfach genauso fragwürdig wie die Rede von einer arabischen Welt, zu der die Türkei, der Iran oder Afghanistan, die Kurden, die Berber, die Indonesier stillschweigend mitgedacht werden. In Europa von christlich orientierten Ländern auszugehen, bleibt Sache ideologisch entsprechend positionierter Kommentatoren.

Die europäischen Gesellschaften sind postchristlich, diesen Eindruck habe ich von ihnen. Für Länder des Mittleren Ostens gibt es kein korrektes Wort in diesem Sinn. Ihre vielfältige Realität lässt sich nicht in ein Konzept fassen. Auch wir selbst wechseln daher dauernd die Begriffe, abhängig vom Kontext. Mit arabischer Nation, dem arabischen Vaterland, meinen wir die Idee vom Panarabismus. Unter arabischer Welt verstehen wir kulturelle Zusammenhänge, Gefühlsebenen, Sehnsüchte, Alltägliches. Das ist so wie mit dem lateinischen Charakter von Lateinamerika, das in sich ja ebenfalls sehr heterogen ist. Tendenziell sind die Menschen dort katholisch, sie sprechen Spanisch oder Portugiesisch, gewisse Charakteristika haben sich herausgebildet. Von Einheitlichkeit lässt sich in beiden Fällen dennoch nicht sprechen. Manchmal ist auch einfach von der arabischen Region die Rede, nämlich dann, wenn wir uns primär über den geografischen Zusammenhang definieren, so wie es Metternich für das entstehende Italien getan hat. Dann spielen die Differenzen, die Zersplitterung, die Unkoordiniertheit mit herein. Verbindend ist in erster Linie das Gebiet, in dem wir leben. Sicher gibt es dabei auch eine islamische Dimension. In den Ländern, die wir im Auge haben, ist die Mehrheit der Bevölkerung muslimisch und der Islam ist eine wirklich funktionierende Religion mit großer Bedeutung für das Leben der Menschen, für ihr Verhalten, ihre Wertvorstellungen. Bis jetzt jedenfalls ist der Islam noch nicht in Folklore verwandelt worden. Auch die Lebenswelt von Christen, von Juden, von völlig säkularen Menschen ist in dieser Region stark islamisch geprägt. Ich kenne Christen, die sagen, wir sind, kulturell gesehen, zu achtzig Prozent Muslime. Über Generationen hinweg in dieser kulturellen Totalität zu leben, erzeugt eben solche Überlagerungen. Angesichts dieser Realitäten ist die Suche nach einer richtigen Bezeichnung ein eher hoffnungsloses Unterfangen.

Solche Gesellschaften als islamisch orientiert zu bezeichnen, scheint aber unter dem kulturellen Aspekt durchaus zutreffend zu sein.

Ich würde das von Fall zu Fall entscheiden, nach dem jeweils gemeinten Zusammenhang. Die Reduktion dieser vielfältigen Dimensionen blendet immer etwas aus. Syrien zum Beispiel ist einmal christlich und byzantinisch gewesen, viele vorislamische Bedingungen wirken nach. Letzteres gilt auch für den Iran; wer dessen Gesellschaft sorgfältig studiert, wird unter der Oberfläche des schiitischen Islam viele Momente entdecken, die auf viel Älteres verweisen.

Solche Differenzierungen gehen im Mediengeschehen fast zwangsläufig unter. Der öffentliche Raum verengt sich wieder auf massiv propagierte Perspektiven. Im arabischen TV-Sender Al-Jazeera habe ich viel dramatischere Berichte vom Afghanistankrieg gesehen als in irgendeinem westlichen Sender. Übernommen wurden sie im Westen nicht. Zu einem Austausch, zu einer Auseinandersetzung mit anderen Positionen kommt es trotz der globalen Medienmöglichkeiten praktisch kaum.

Darauf möchte ich mit einer persönlichen Erfahrung eingehen. Als ich vor Jahren Gastprofessor in Princeton war, habe ich den Studierenden zu diesem Thema gesagt: In der Sowjetunion gibt es eine offizielle Linie, aber keiner nimmt sie ernst, in den USA gibt es keine offizielle Linie, aber jeder glaubt an sie. In meinem Programm zum Mittleren Osten des 20. Jahrhunderts habe ich daher großes Gewicht darauf gelegt, die wichtigen Positionen zu Aspekten des Kolonialismus genau zu analysieren. Das hat sich aber trotz der amerikanischen Tradition, Kritik und Gegenkritik als Fundament des Geisteslebens zu betrachten, als äußerst schwierig herausgestellt. Immer wieder setzte sich in den Köpfen die sozusagen offizielle Sichtweise durch, als standardisierte, nur die normalen Quellen berücksichtigende Perspektive. Zum Standpunkt der Kolonisierten vorzudringen, wenigstens andeutungsweise, ist fast allen sehr schwer gefallen. So war etwa ein Verständnis für die Interessenslagen von Ägyptern unter britischer Herrschaft kaum zu erreichen, obwohl Ägypten schon im 19. Jahrhundert das ausstrahlende Reformland der Region gewesen ist.

Vom Tuaregführer der 1980er Jahre Mano Dayak habe ich die Aussage gefunden, dass sie genauso gehandelt hätten wie die Kolonialherren "vielleicht auch grausamer, wer weiß". Sich im Zweifel immer mit Unterdrückten verbundenen zu fühlen, ist auch ohne solche Einsichten ein kaum durchhaltbarer Anspruch, als Perspektive aber weiterhin notwendig.

Dass Unterdrückte zu Unterdrückern werden, ist in der Geschichte oft passiert. Das ändert nichts an der Grundproblematik. In den westlichen Medien kommt sie kaum vor, auch wenn sich hin und wieder durchaus entsprechende Absichten bemerkbar machen. Bestimmend für die Tendenzen der Berichterstattung ist die inoffizielle offizielle Linie, wie ich es nenne. Medien sind keine isolierten, abgegrenzten Institutionen, sie existieren in einem Gewebe von Machtspielen, Einflussnahmen, Manipulationsversuchen, Präsentationszwängen. Den Horizont zu erweitern, etwa durch Übernahmen von Al-Jazeera, wäre, wie Sie sagten, äußerst notwendig. Die Qualität dieses Senders zeigt sich schon darin, dass es praktisch mit allen arabischen Regierungen immer wieder heftige Konflikte gibt. Er wird ständig angegriffen, hält das aber durch. Das Muster, gegenüber anderen höchst kritisch zu sein, im eigenen Bereich aber Kritik zu unterdrücken, ist für die meisten Regime und Regierungen der Region charakteristisch. Kritiker zu Agenten irgendwelcher ausländischer Mächte zu stempeln, gehört zum Standardrepertoire.

Das ist mir auch aus meiner Umgebung geläufig. Dennoch ist offensichtlich, dass viele der kritischen Geister des Mittleren Ostens längst im Westen leben, weil sie in ihren Herkunftsländern zu viel Druck verspüren, kaum Chancen vorfinden. Wenn in Europa dieses Exil konstruktiver aufgenommen würde, ließe sich das doch beidseitig als Potenzial künftiger Kooperationen nutzen. Es werden aber Ängste vor Fremden geschürt und damit Wahlen gewonnen. Und gerade solche Leute brüsten sich mit ihren guten Beziehungen zum arabischen Raum.

Dass jemand wie Herr Haider hier akzeptiert wird, hat einen einfachen Grund, seine antiisraelische Position. Wenn dabei rassistische Haltungen mit ins Spiel kommen, so wird in zynischer Weise übersehen, dass Rassisten sich nicht nur gegen Juden wenden, sondern genauso gegen alle anderen, gegen Araber, gegen Pakistani, gegen Asiaten, gegen Afrikaner und so fort. Araber tappen leicht in die Falle, in der europäischen Rechten den Feind ihres Feindes zu sehen. Sie glauben, es könnte ihnen nützlich sein. Das ist gefährlich, prinzipienlos, kurzsichtig.

Eine kritische Haltung israelischen Regierungen gegenüber wird auch in Europa allzu leicht mit antisemitischen Tönen vermengt. Die Schamgrenze sinkt wieder deutlich. Vieles davon schien längst überwunden.

Bewusst sein sollte, dass der Antisemitismus ursprünglich eine europäische Angelegenheit ist. Sogar das Wort dafür ist aus Europa gekommen. Wenn wir uns jetzige arabische Karikaturen von Juden ansehen, wird deutlich, wie weit sie auf Vorbilder aus Deutschland, aus Wien, zurückgehen. Sie existierten dort schon lange vor der Nazizeit. Solche Klischees sind importiert. Konflikte zwischen Muslimen und Juden, zwischen Muslimen und Christen, zwischen Türken und Kurden, hat es bei uns auch gegeben und gibt sie noch, aber eine systematische Verfolgung wie im Namen des Antisemitismus hat nie stattgefunden. Es haben sich auch keine politischen Parteien mit rassistischen Programmen gebildet.

Überhaupt noch von Rassen zu reden, von angeblichen genetischen Unterschieden, ist zwar nicht mehr diskursfähig, als Unterströmung macht sich ein solches Gedankengut aber überall wieder bemerkbar. Auch in aufgeklärten Gesellschaften sollen annähernd zwanzig Prozent der Bevölkerung dafür anfällig sein. Welche Konzepte zu Differenz und Ähnlichkeit könnten dem entgegenwirken? Wenn wir irgendwo auf einem Flughafen ins Gespräch gekommen wären, hätte keiner von uns den anderen herkunftsmäßig zuordnen können. Darin liegen doch erfreuliche Freiheitsgrade.

Selbstverständlich sind für uns auf lange Sicht die Ähnlichkeiten besonders wichtig, etwa über das Mittelmeer hinweg, aus den alten kulturellen Beziehungen heraus. Nehmen wir als Gegenbeispiel den Schleier, das Kopftuch, als sichtbares Zeichen von Differenz. Viele von uns nennen die verschleierten Mädchen und Frauen "Nonnen", in Analogie zu den lange üblichen christlichen Bekleidungssitten. Hinter Differenz zeigen sich überall Ähnlichkeiten. Und wenn wir einen Schritt weitergehen, kommt einem wieder in den Sinn, dass das Christentum aus dem Mittleren Osten stammt. Deswegen ist vor allem im angelsächsischen Raum auch von der jüdisch-christlichen Tradition die Rede, die bei uns ihren Ursprung hat. Den Islam als deren Erweiterung zu sehen, so wie es Muslime tun, sollte also nicht auf völliges Unverständnis stoßen. Europa hat seine Religion von hier bezogen, wir von ihm die Aufklärung und all die wichtigen Aspekte an Modernität. Das dialektische Zusammenwirken zwischen beiden Seiten des Mittelmeeres hat nicht nur Differenzen, sondern auch viele unübersehbare Ähnlichkeiten produziert. Abraham, Platon, Aristoteles, Jesus sind sozusagen gemeinsame Ahnen. Wie sehr sich die Menschen an sich ähnlich sind, braucht wohl nicht extra betont zu werden.

Ungewohnte Namen aber machen Schwierigkeiten. Sich arabische in korrekter Schreibweise zu merken, fällt Leuten im Westen nicht gerade leicht, noch dazu wo es auch intellektuell kaum einen ständigen Austausch gibt.

Aber sehr viele heute überall gebräuchliche Namen stammen aus unseren Gegenden: Maria, Johannes, Peter, Paul, Christoph, Thomas, Georg ...

... über Georg und andere gibt es einen Essay in diesem Band, genau aus diesem Grund.

Solchen Spuren zu folgen, kann durchaus einiges bewusst machen, etwa dass im Französischen Georges ein stilles "s" am Ende hat; das kommt über das Griechische direkt vom Arabischen, von Girgis bzw. Gorgos.

Für die Globalisierung ist sogar die weltweite Verbreitung solcher Namen eine Metapher, selbst wenn deren Herkunft kaum jemanden beschäftigt. Als Auseinanderdriften von Bevorzugten und Benachteiligten hat sie jedoch auch sehr dramatische Implikationen; könnten Sie Ihre Sicht auf solche Tendenzen zum Abschluss kurz kommentieren?

Im Kern geht es bei der Globalisierung klarerweise um einen vehementen ökonomischen Prozess. Sie ist ein Sturm, der aus dem Zentrum in Richtung der armen Länder an der Peripherie weht. Globale Eliten dominieren das Business, die Finanzen, das Marketing, die Wissenschaft, die Technik; ihre Herkunft, ihre Kultur, ihre Religion sind zunehmend gleichgültig. Die Lingua franca ist Englisch. Wenn sich das so fortsetzt, dürfte es bald immer mehr Autoren, Schriftsteller, Dichter, Künstler geben, ob es nun Männer oder Frauen sind, die auf die geistigen Bedürfnisse dieser in sich heterogenen, aber global agierenden Eliten reagieren. Das wird kulturell seine Auswirkungen haben, durchaus auch positive, verbindende. Nehmen wir Bücher der letzten Zeit, etwa "Orientalismus" von Edward Said, die "Satanischen Verse" von Salman Rushdie, Fukuyamas "Das Ende der Geschichte", Huntingtons "Kampf der Kulturen", so sind sie alle in Englisch geschrieben und in den USA veröffentlicht worden. Wie nie zuvor ist es damit gelungen, eine globale Signifikanz zu erreichen. Alle wurden sofort weltweit diskutiert, in jedem Land. Als früheres Beispiel fällt mir dazu nur Pasternaks "Doktor Schiwago" ein; das aber war eine Affäre des Kalten Krieges. Vorerst unabhängig von der Qualität ist dieses unmittelbar Universelle das wirklich Neue daran. An Salman Rushdies "Satanischen Versen" wird das besonders deutlich. In der arabischen Welt hatten wir Serien von Büchern, die riesige literarische oder religiöse Skandale hervorriefen; aber als interne Angelegenheiten. Wenn es um Religionskritik ging, ist das in Europa nicht viel anders gewesen. Rushdies Position aber ist neu, auch sein Blick, als Durchmischung des religiösen Ostens mit dem säkularen Westen. Vom Westen her ist das als "unser" Skandal gesehen worden, als Zeichen von Rückständigkeit. In Wahrheit sind aber erstmals beide Seiten voll involviert. Von islamischer Seite wird Rushdie vielfach nicht als zugehörig betrachtet, obwohl er es natürlich ist; vom Westen wird er polizeilich beschützt, aber nicht als muslimischer Dissident, so wie wir ihn sehen, sondern als eigenes Objekt. Schon darin zeigen sich die von ihm kenntlich gemachten übergreifenden Momente, um die es mehr und mehr gehen wird.


zurück oben


© Sadik J. Al-Azm, Christian Reder / Edition Transfer bei Springer Wien New York 2002/2003