Mary war
die von den Kulczars (Gründer der Gruppe "Funke",
nach Lenins "Iskra") entdeckte "reiche Amerikanerin".
Ihr richtiger Name war Muriel Gardiner. Sie lebte mit ihrer
vierjährigen Tochter aus einer geschiedenen Ehe in Österreich,
besaß ein kleines Blockhaus im Wienerwald (in Sulz) und
in Wien zwei Wohnungen, eine in der Rummelhardtgasse und eine
kleinere in der Lammgasse nahe der Universität, die sie
nur einige Stunden am Tag zum Studium und als eine Art Büro
benutzte. Dort bot sie nach dem Februar 1934 vielen untergetauchten
Sozialisten Unterschlupf. Ihre Wohnung wurde zum wichtigen Stützpunkt
für die konspirative Tätigkeit und die Fluchthilfe.
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Abscheu vor den Übeln der Gesellschaft hatte sie schon
als Kind gegen ihre wohlhabende Umwelt aufgebracht und in
jenen Zustand moralischer Erregung versetzt, der Menschen
ihrer Art seil mehreren Generationen für die sozialistische
Gedankenwelt empfänglich machte. Ihre Hoffnungen auf
eine menschlichere Gesellschaft in unbestimmter Weise mit
den Bestrebungen der Arbeiterschaft verbindend, hatte sie
bisher nur mittelbare Beziehungen zu proletarischen Organisationen
unterhalten. Ihr geistiges Verhältnis zum Sozialismus
war unsicher geblieben, ihre persönlichen Beziehungen
zu seinen Vertretern von Zweifeln und Sorgen belastet. Als
der Faschismus sie der wachsenden Teilnahmslosigkeit entriß,
der sie schließlich verfallen war, verwob der Zufall
sie mit einer neuartigen illegalen Bewegung, deren Traum von
einer sozialistischen Wiedergeburt sie mit halber Überzeugung
miterlebte, Die Begegnung mit Richter (Deckname für Joseph
Buttinger, 1935-38 Obmann des Zentralkomitees der "Revolutionären
Sozialisten" und danach der Auslandsvertretung der österreichischen
Sozialisten) erfüllte sie mit neuer Zuversicht, und nun
wurde auch für sie, die verborgenste aller österreichischen
Illegalen, der Kampl für den Sozialismus bis zum Anbruch
der großen Finsternis Inhalt eines schönen tätigen
Lebens. Es war jedoch längst auch der berechnendeTypus
des Berufsfunktionärs überreichlich vertreten, gegen
den es selbst in wirklich schwierigen Zeiten offenbar keine
geeigneten Gegenmaßnahmen gab.
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Nur der Mensch, der ihm (Leopold Kulczar) nützte, besaß
in seinen Augen Wert, alle anderen waren Feinde. Er rührte
keinen Finger, ohne vorher zu berechnen, was ihm die Anstrengung
eintragen würde. Sachliche Anerkennung war ihm fremd.
Nur nach langen Beratungen mit seiner Frau legte er seine
herzlosen Beziehungen zu "Freunden" und Mitarbeitern
fest, und selbst die Länge und Lautstärke seines
Gelächters war das Ergebnis sorgfältiger taktischer
Überlegungen.
Zwischen seinem privaten Aufwand und Gruppenauslagen hätte
auch ein Buchhaltergenie keine Grenzen zu ziehen vermocht,
so vollkommen beherrschte er die Kunst, persönliche Auslagen
in Organisationsspesen zu verwandeln. Eine Wohnung im ersten
Wiener Hochhaus wurde das Wahrzeichen seiner "Hochstapelei",
der Pollak (Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung) seine eigene
kleinbürgerliche Solidität entgegenstellte. - Ein
paar Monate später ar die Geschichte von dem "verschwundenen
Eisenbahnergeld" in aller Munde. Kulczar hatte mit dem
Auftrag, eine illegale Eisenbahnerzeitung herauszugeben, eine
namhafte Summe erhalten. Von der Zeitung erschien nur eine
einzige Nummer, aber das Geld war verbraucht. Aber während
das Ansehen der Kulczars sank und sich immer seltener eine
Stimme zu ihrer Verteidigung erhob, nahm der Einfluß
ihrer Kritik ständig zu - als sollte das junge Volk der
Aktivisten darüber belehrt werden, dass Spitzbübereien
kein Hindernis für politische Erfolge sind.
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Die "reiche Amerikanerin" war sogar ins Zentralkomitee
der kurzlebigen Gruppe "Funke" berufen worden, ihr
anfangs dort tätiger späterer Mann Joseph Buttinger,
der zuletzt Bezirkssekretär der SPÖ in St. Veit
an der Glan war, wurde als vielversprechende Nachwuchskraft
nach Wien geholt. Es galt, die inhaftierten oder geflohenen
Parteiführer zu ersetzen und eine illegale Organisation
zu schaffen, für die es kaum Vorbereitungen gegeben hatte.
Vorerst entstanden einzelne Gruppen und erst nach und nach
setzten sich die "Revolutionären Sozialisten"
als Nachfolgeorganisation der zerschlagenen SPÖ durch.
Muriel Gardiner und Joseph Buttinger trafen sich das erste
Mal inn Spätsommer 1934 in Wien, beide waren damals um
die dreißig Jahre alt. Sie hat jetzt - mit dem milden
Blick des hohen Alters - ihre Memoiren herausgegeben (siehe
oben). Drei Jahrzehnte zuvor hatte ihr Mann das Scheitern
der österreichischen Sozialdemokratie vor dem Faschismus
und deren interne Machtspiele biografisch aufgearbeitet und
die bisherigen deutschsprachigen Zitate stammen aus diesem
Buch; (Joseph Buttinger: Das Ende der Massenpartei. Am Beispiel
Österreichs. Ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der
sozialistischen Bewegung. 1953, Neuauflage: Verlag Neue Kritik,
Frankfurt, 1972 / englisch: In the Twilight of Socialism,
New York, 1953). Sie stellt seiner scharfen, jede Linientreue
mißachtenden Abrechnung - dem vielleicht aufschlußreichsten
Buch über die 30er Jahre in Österreich, das offenbar
auch heute noch als Geheimtip gilt, nachdem es so lange peinlich
totgeschwiegen worden ist - eine einfache Schilderung ihres
Lebens gegenüber. Aus dem Gegensätzlichen und Gemeinsamen
lassen sich bisweilen Dimensionen erkennen, die für ein
Verständnis von Bewusstseinsänderungen wichtig sind.
Wichtiger jedenfalls als die Geschichtsfälschungen nach
dem Krieg, im Rahmen derer z.B."Eine volkstümliche
Geschichte der Sozialistischen Partei Österreichs"
(Im Sturm eines Jahrhunderts, von Jaques Hannak, Wien, 1952)
den unbequemen Buttinger bereits vorsorglich ins Abseits stellte:
Ein nach Wien. Verschlagener Kärntner (in Wahrheit ein
in Bayern geborener Oberösterreicher) namens Buttinger,
den man an die Spitze stellte, weil er unauffällig und
der Polizei unbekannt war (in Wahrheit war er Anfang August
1934 nach drei Monaten Haft aus dem Villacher Polizeigefängnis
entlassen und aus Kärnten ausgewiesen worden), erfand
sich seine eigene "Neu-Beginnen"-Theorie. Mittel
derer er die Nabelschnur zur alten Partei abschneiden zu können
wähnte (in Wahrheit bestanden enge, wenn auch nicht konfliktfreie
Beziehungen zum Vorsitzenden der "alten" Partei,
Otto Bauer, in Brünn). Die Schaumschlägerei wurde
von den Massen nicht einmal gemerkt ...
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Muriel Gardiner stammt aus Chicago. Ihre Familie war innerhalb
einer Generation zum schwerreichen Besitzer eines Fleischverarbeitungs-Konzerns
geworden. Sie selbst war als jüngstes von fünf Kindern
in einer schloßartigen Villa, umgeben von Dienstboten,
aufgewachsen. Der Vater starb, als sie elf war, die Mutter
verbreitete streng puritanische Auffassungen und beide - so
schreibt sie - wurden von den Kindern gefürchtet. Als
1912 die Titanic sank, fiel ihr auf, daß sich ihre Verwandten
und die Zeitungen zuallererst über den Tod der Reichen
(und den Verlust ihrer Juwelen) erregten. Dies, sowie die
Erinnerungen an ihre erste Schiffsreise über den Atlantik,
abgetrennt von der auf den Unterdecks zusammengepferchten
Menge, führt sie neben Erzählungen ihrer Kinderfrauen
als erste irritierende soziale Erfahrungen an. 1914 fühlte
sie sich als Pazifistin, die russische Revolution hat sie
beeindruckt und 1918 ging sie für vier Jahre nach Boston
aufs College, um Literatur und Geschichte zu studieren. Auf
ihre lebenslange materielle Unabhängigkeit reagierte
sie als Studentin durch einen vergleichsweise kargen Lebensstil,
durch die Mitarbeit in einem Hilfskomitee für das hungernde
Nachkriegs-Europa, als zeitweilige Präsidentin einer
liberal-sozialistischen Studentenorganisation oder durch das
öffentliche Eintreten für Nicola Sacco und Bartolomeo
Vanzetti (die als vermeintliche Terroristen verurteilt und
schließlich trotz weltweiter Proteste 1927 hingerichtet
worden sind). Solche Aktivitäten trugen ihr rasch den
Ruf einer "Red" und einer "Bolshie" ein,
aber "in those days", so sagt sie, wurde jeder links
von der Mitte rasch so abgestempelt.
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Diesem Werdegang, der wie ein Klischee wirkt, aber dann doch
über ein solches hinausführt, steht konträr
jener Joseph Buttingers gegenüber, auf den der eben gewählte
Nachsatz jedoch genauso paßt. Er stammt aus ärmsten
Verhältnissen, sein Vater war Arbeiter im Straßenbau,
in Steinbrüchen, Fabriken und im Bergbau. Die ganze Familie
zog den Arbeitsmöglichkeiten nach, in bayrische und Salzburger
Dörfer, nach Augsburg und ins Ruhrgebiet (1913-16) und
schließlich zurück nach Waldzell bei Ried im Innkreis,
aber da war der Vater längst Soldat. Bald darauf lag
er als Schwerverletzter in einem Linzer Krankenhaus für
geisteskranke Soldaten. Den Besuch dort als Elfjähriger
beschreibt Buttinger als das Schlimmste, das er und seine
Mutter je erlebt hatten. Alle Patienten im Saal seien nur
noch Haut und Knochen gewesen, es war von einer Hunger-"Diät"
die Rede und alle prügelten sich verzweifelt um die mitgebrachten
Butterbrote und Äpfel. Im offenen Sarg beim kurz danach
stattfindenden. Begräbnis erkannte er den Vater kaum
wieder. Die Ehrensalve und das förmliche Beileid das
Offiziers verursachten in ihm nur noch einen elementaren Zorn.
Es waren vier Kinder da und der Bericht Buttingers über
sein Erwachsenwerden (Joseph Buttinger: Ortswechset. Die Geschichte
meiner Jugend, Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 1979) ist eine
lapidar-eindringliche Beschreibung damaliger Alltagsarmut
mit ständigen Hungergefühlen, mit Erdäpfeln
als Hauptnahrung, bestenfalls einem Paar schlechter Schuhen
für den Winter, als Ministrant erlebter streng katholischer
Umgebung und harter Kinderarbeit für einige Heller. Mit
dreizehn kam er als Knecht zu einem Bauern, wo ihm oft ein
mehr als 16stündiger Arbeitstag abverlangt wurde. Als
im Jänner 1921 ein aus Wels gekommener Gewerkschaftsfunktionär,
der vor unzufriedenen Landarbeitern sprechen wollte, von den
örtlichen Bauern mit Stöcken niedergeschlagen wurde
und daraufhin die Arbeiter der drei Stunden entfernten Glasfabrik
im Dorf demonstrierten, vermittelte ihm das bleibende Eindrücke
aus einer ihm bis dahin unbekannten Welt. Kurz darauf war
er Arbeiter in eben jener Glasfabrik in Schneegattern und
machte mit voller Intensität das durchorganisierte Leben
der damaligen Arbeiterbewegung mit.
1926 im selben Jahr, in dem Muriel Gardiner nach Aufenthalten
in Italien und Oxford nach Wien kam, um sich einer Analyse
ihrer Psyche zu unterziehen und schließlich selbst Medizin
zu studieren, trat Joseph Buttinger nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit
eine Stelle als Hortleiter der Kinderfreunde in St.Veit an
der Glan an. Vier Jahre später wurde er dort Bezirksparteisekretär.
Als Abschluß seiner Erziehertätigkeit hatte er
noch eine Vortragssammlung verfaßt, "Vom Urnebel
zum Zukunftsstaat", ("Sie zeigt nicht nur das breite
Spektrum meiner intellektuellen Aspirationen, sondern auch
eine Menge von erschreckendem Dogmatismus und intellektueller
Überheblichkeit, beides zumindest teilweise zurückzuführen
auf die ideologischen Vorurteile, welche die meisten Parteitheoretiker
ihren Anhängern einimpften.").
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Zwischen 1934 und 1938 ging Buttinger in seiner Arbeit als
führender Funktionär des Untergrundes und in dessen
internen Kämpfen auf. Muriel Gardiner ("at that
time I was openminded to communism") verhalf ungezählten
Menschen zur Flucht, sie gab Garantieerklärungen für
die amerikanischen Behörden ab, beschaffte falsche Papiere,
bot Unterkunft und finanzielle Unterstützung. Bei ihr
fanden wichtige konspIrative Treffen statt und sie war als
Kurier zu Kontaktpersonen ins umliegende Ausland unterwegs.
Buttinger floh einige Tage nach dem Anschluß nach Frankreich,
sie blieb noch und konnte nach einer Reihe von Schikanen (als
"jüdischer Mischling ersten Grades") im Juni
1938 zum Dr. med. promovieren, allerdings nur unter der Bedingung,
selbst bei Erlangung der Staatsbürgerschaft hier nie
zu praktizieren. Anschließend fuhr sie nach Paris, wo
Joseph Buttinger bereits als Obmann der Auslandsvertretung
der österreichischen Sozialisten tätig war. Im November
kehrte sie nochmals nach Österreich zurück, um in
Klagenfurt, St.Veit, Salzburg und Linz Informationen auszutauschen,
bevor sie das bereits von totalem Mißtrauen geprägte
Land für elf Jahre verließ, froh endlich draußen
zu sein, "... safely out of Austria".
Mit Kriegsausbruch wurde Joseph Buttinger wie viele geflohene
Deutsche und Österreicher in Frankreich interniert, aber
Ende 1939 gelangte er mit Muriel Gardiner (sie hatten in Paris
geheiratet) in die USA. Sie waren dann beide jahrelang in
der Flüchtlingshilfe engagiert und er konzentrierte sich
nach dem Krieg besonders auf die Problematik Vietnams; aber
das ergäbe eine eigene Geschichte. Erst mit dem zeitgeschichtlichen
Tauwetter anfangs der 70er Jahre wurde der Name Buttinger
hierzulande wieder geläufiger und die Arbeiter-Zeitung
konnte es sich erlauben, von ihm Artikel zu drucken. Schließlich
bekam er sogar noch das "Große goldene Ehrenzeichen
für Verdienste um die Republik Österreich"
und sie - die als Psychiater und Fachpublizistin tätig
ist - einen Orden etwas minderer Güte. Anna Freud, deren
Vater sie einst als Patientin abgelehnt und an eine Kollegin
verwiesen hatte, schrieb ihr, nachdem einmal ein kurzer Bericht
über Muriel Gardiners Wiener Zeit erschienen war: I had
not known of the intensity of your political activities in
Vienna, only ihe vaguest rumors.
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Frühling 1926: I decided to go
to Vienna to explore the possibility of being psychoanalyzed
by Freud.
Herbst 1938: I know only that the many
hours in the train before reaching the border seemed
absolutely endless. I was relieved but too exhausted
to feel even gladness when I was safely out of Austria.
Muriel Gardiner: Code Name "Mary".
Memoirs of an American Woman in the Austrian Underground.
Yale University Press. New Haven - London, 1983
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